Die anhaltende Diskussion über die Versorgungskrise mit Halbleitern hat in der EMS-Branche für viel Aufregung gesorgt. Aber was sagen die Zahlen? in4ma hat nachgefragt und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen.
Das Schreckgespenst der Halbleiterkrise wird an viele Wände gemalt – so auch in der EMS-Industrie. Aber vielleicht versteckt sich dahinter ein Aufschwung? In4ma hat auf die Zahlen geschaut, um die Diskussion mit Daten zu unterlegen.
Keine Frage, die EMS-Industrie hat schon leichtere Zeiten erlebt: Seit drei Jahren rumpelt es in der Elektronikindustrie, zuerst Allokationsprobleme, dann Wirtschaftsschwäche, dann Corona Pandemie und Ende 2021? Schon wieder Allokationsprobleme. Das führt natürlich auch zu entsprechenden Diskussionen, beispielsweise forderte Matthias Sester von Fritsch Elektronik kürzlich ein Umdenken in der EMS-Branche. Die Meinungen über die Versorgungskrise mit Halbleitern für die Elektronikindustrie gehen nun schon seit 2021 auseinander und eine Frage stand immer im Raum: Wie lange wird die Krise noch andauern? Ein weiterer Punkt: welche Auswirkungen hat die EMS-Industrie in Europa zu befürchten?
Um die Diskussion mit Zahlenmaterial zu unterfüttern, hat sich das auf dem EMS-Sektor spezialisiert Marktforschungsunternehmen in4ma Anfang August die Halbjahresergebnisse einiger börsennotierter EMS angesehen. Auch wenn nicht alle Halbjahresergebnisse auf organischem Wachstum beruhen, so konnten sie dennoch ein extrem hohes Umsatzplus feststellen. Beispielsweise konnten die börsennotierten Unternehmen Scanfil, Kitron, Note, Hanza und Incap im Schnitt ihren Umsatz um 39 % erhöhen! Auch Firmen wir GPV, Lacroix, Cicor und Katek können ein Umsatzplus im deutlich zweistelligen Bereich vorweisen. Davon ist sicher ein Teil auf Preiserhöhungen zurückzuführen, aber den Löwenanteil kann ein nahezu ausschließlich organisches Mengenwachstum für sich beanspruchen.
Zwangsläufig führte dies bei in4ma zu der Frage, ob es sich bei den erwähnten Firmen um Ausreißer handelt und wie sich die Branche allgemein entwickelt. So hatten einige der börsennotierten Unternehmen schon ihre Jahresprognose angehoben. in4ma hat daher rund 400 EMS Unternehmen in Europa angeschrieben, und darum gebeten, eine Umsatzprognose für das Gesamtjahr 2022 basierend auf den Ergebnissen des 1. Halbjahres abzugeben. Zudem wurde abgefragt, welchen Anteil Preiserhöhungen und Weiterbelastung von Zusatzkosten an dieser Veränderung hatten.
So steht der europäische EMS-Markt da – Krise sieht anders aus
Insgesamt haben 120 EMS-Unternehmen an der Umfrage teilgenommen – also eine beachtliche Rückläuferquote von 30%. Die Umsätze 2021 dieser Firmen machten 2021 einen Umsatzanteil von 29,6% des gesamten Produktionsvolumens 2021 aus. In Summe erwarten diese Unternehmen ein Umsatzwachstum 2022 von 21,7%. Davon sind nach deren Aussage 9,4% bedingt durch die Weitergabe von Materialpreis-Erhöhungen und Zusatzkosten durch die Materialverknappung. Der größere Anteil mit 12,3% sind jedoch Mengenwachstum.
Das wirft die Frage auf, wie es den EMS Unternehmen gelungen ist die Produktionsmengen zu steigern, wenn andererseits fast jeder über fehlende Bauteile klagte. Kabelbäume waren es jedenfalls nicht und PCBA ohne Halbleiter sind auch äußerst selten. Dieter Weiss, einer der Köpfe hinter in4ma, geht auf LinkedIn sogar so weit, dass er sagt: „Es gibt keine Chip-Krise, […], auch wenn viele Elektronikhersteller anderer Meinung sein mögen.“
Immerhin haben ca. 10% der Firmen angegeben, die Preise nicht erhöht zu haben und die Mehrheit davon erwartet 2022 kein Umsatzwachstum, sondern eher Schrumpfung. Schwer zu erklären ist dies laut in4ma allemal. Es sei ja nicht so „dass die EMS-Industrie so hohe Margen hat, dass sie Geldgeschenke verteilen könnte.“
Auf die Prognose für 2022 lassen sich die Werte jedoch nicht 1:1 übertragen. Erfahrungsgemäß nehmen Firmen mit schlechten Zahlen seltener an Umfragen teil. Zudem wird die Auswertung zu 83,7% von den XXL-Unternehmen (>100 Mio. Euro) dominiert und lediglich 5% der Zahlen kommen aus Osteuropa. Dementsprechend rechnet in4ma derzeit mit einem Wachstum von 15,4% für 2022, was immer noch das beste Wachstum der letzten 15 Jahre ist.
Wo also ist die Krise? Wieso haben die meisten EMS ihre Roh- Hilfs- und Betriebsstoffe bereits 2021 gegenüber 2020 mehr als verdoppelt und im 1. Halbjahr 2022 nochmals weiter aufgestockt. Die eigentliche Krise erscheint eher die Materialpreisverteuerung zu sein, die von den EMS-Unternehmen nicht konsequent weitergegeben wurde. Von 2020 auf 2021 hat sich der Materialanteil am Umsatz bei auswertbaren Firmen laut in4ma um über 1% erhöht. Da nicht davon auszugehen ist, dass sich zeitgleich die Personalkosten reduziert haben, bedeutet dies mindestens 1% weniger im Gewinn. Schaut man sich die durchschnittlichen
Gewinne der EMS-Unternehmen an und bedenkt die noch vor uns liegenden Herausforderungen mit Preiserhöhungen beim Gas, Strom und Stickstoff, dann muss damit gerechnet werden, dass die wahre Krise erst noch kommt. Laut Dieter Weiss sind dies: Personalmangel, zu hohe Inventarbestände, unzureichende Weitergabe von Preiserhöhungen an die Kunden und Kostenexplosion bei Energiekosten.